Verurteilst du dein Gegenüber noch oder packst du die Matroschka schon aus?
Stell dir vor ...
Mal wieder eins dieser unsäglichen Meetings. Heute im Fokus deines Ärgers: der labernde Mitarbeiter. Unfassbar, was der wieder alles raushaut, ohne Wesentliches mitzuteilen. Kommt seelenruhig vom Hölzchen auf Stöckchen. Dabei blickt er mal den einen, mal den anderen in der Runde an und beginnt dann erneut bei Adam und Eva. In dir steigt mächtig Ärger auf: Woher nimmt der das Recht, so gedankenlos draufloszureden? Wie kann jemand einem derart ungerührt die Zeit stehlen?
Für dich steht fest: Es liegt an Labertaschen wie dieser, dass Meetings so oft reine Zeitverschwendung sind. Zwei deiner wichtigsten Bedürfnisse – nämlich Effektivität und Effizienz – bleiben auf der Strecke: Null Effektivität, weil der Mitarbeiter kaum etwas Wesentliches sagt und null Effizienz, weil er dafür auch noch so lange braucht. Du leidest auf allen Ebenen. Du kannst nichts Positives an deinem Gegenüber erkennen. Und da wären wir auch schon beim Thema: dem Positiven, das so schwer zu sehen ist.
Theoretisch heißt das …
Was soll positiv daran sein, wenn jemand fast nichts sagt, dafür aber jede Menge Zeit verwendet? Auf den ersten Blick ist diesem Verhalten deines Gegenübers wenig Positives abzugewinnen. Doch im Folgenden soll es um den zweiten Blick gehen. Denn dort liegt deine Chance zur Ärgerminimierung.
Der erste Blick konzentriert sich auf das unmittelbar wahrnehmbare »negative « Verhalten, das deinen Bedürfnissen zuwiderläuft. Wenn du es dabei belässt, kommt zwangsläufig Ärger auf. Schaust du aber ein zweites Mal hin und fragst dich: »Wozu verhält sich der andere so? Was möchte er damit erreichen?«, kommst du einen entscheidenden Schritt weiter. Denn das Verhalten deines Gegenübers mag eigentümlich wirken, es entspringt jedoch immer einer positiven Absicht beziehungsweise einem nachvollziehbaren Motiv oder einem guten Grund. Wie auch immer du es nennst: Die zugrunde liegende Annahme dazu lautet: Es gibt kein Verhalten ohne ein korrespondierendes Bedürfnis, kurz positive Absicht (eine der acht NLP-Grundnahmen nach Richard Bandler: http://nlpportal.org/nlpedia/ wiki/Grundannahmen_des_NLP).
Das Verhalten mag noch so verabscheuungswürdig sein, es steckt stets ein nachvollziehbares, gutes Motiv dahinter. Ja, eine radikale Sicht. Doch sie ist wahr. Wie schon beim Situationsmodell im Kapitel zuvor liegt auch der Strategie der positiven Absicht eine humanistische Grundhaltung zugrunde.
Für jeden Menschen gilt ausnahmslos: Das gewählte Verhalten ist stets eine Strategie (im Außen), um ein Bedürfnis (im Inneren) zu erfüllen. Mal ist das Bedürfnis klar zu erkennen, mal musst du sehr viel Empathie und Geduld aufbringen, um es zu entdecken. Und mal ist es nahezu komplett verborgen.
Wenn du das zunächst unsichtbare Motiv erkennen kannst, geht dein Ärger schlagartig zurück. Denn mit Blick auf die verborgene Absicht beziehungsweise das unerfüllte Bedürfnis hast du dir einen Zugang zum anderen erarbeitet. Du hast ein neues Verständnis entwickelt. Wohlgemerkt: Verständnis, nicht Einverständnis. Das heißt, du verstehst das Bedürfnis des anderen, doch mit seinem Verhalten bist du nicht einverstanden. Der Blick auf die positive Absicht ermöglicht dir also eine dialektische Haltung: Verhalten ist nicht okay – Absicht aber schon. Für diese Haltung brauchst du Empathie und Abstraktionsvermögen. Verharrst du im Schwarz-Weiß-Denken und forderst schnelle, unterkomplexe Lösungen, wirst du mit dieser Strategie wahrscheinlich scheitern.
Praktisch heißt das ....
Schauen wir uns noch einmal das obige Beispiel des Vielredners an. Wirfst du einen zweiten Blick auf sein Verhalten, kannst du möglicherweise eine wohlwollende Haltung einnehmen. Denn vielleicht erkennst du einige der folgenden, zunächst verborgenen positiven Absichten:
- Wahrnehmung: Wenn die Person spricht und Augenkontakt sucht, erfüllt sie sich das Bedürfnis nach Wahrnehmung. Das Gefühl, gesehen zu werden. Ein Bedürfnis, das auch du kennen dürftest.
- Wertschätzung: Als Redende spürt die Person Anerkennung, wenn ihr andere zum Beispiel zunicken, zustimmend lächeln oder ihre Aussagen verbal bestätigen. Auch das kennst du.
- Zugehörigkeit: Aus Wahrnehmung und Wertschätzung kann auch das Gefühl der Zugehörigkeit entstehen. Indem der Mitarbeiter vor der Gruppe spricht, empfindet er sich als ein Teil von ihr und fühlt sich so weniger allein. Auch dieses Bedürfnis ist dir sicherlich bekannt.
- Beitragen: Der Mitarbeiter glaubt, einen wichtigen Beitrag zur gemeinsame Arbeit zu leisten. Er kann aktiv zum Ergebnis beitragen und fühlt sich wertvoll. Ebenfalls ein dir bekanntes Bedürfnis, nicht wahr?
Das Beispiel zeigt, dass du hinsichtlich der Stärke deines Ärgers eine Wahl hast. Wenn du allein auf das unerwünschte Verhalten blickst, wirst du es reflexhaft ablehnen und dich wahrscheinlich sehr ärgern. Blickst du jedoch auch auf die zunächst verborgene positive Absicht, wandelt sich deine Gesamteinschätzung und dein Ärger wird sich abschwächen. Du lehnst das Verhalten zwar weiterhin ab, kannst die Bedürfnisse dahinter jedoch gut verstehen.
Die Ärgerminimierungsstrategie »Positive Absicht« verlangt viel Geduld und ein hohes Einfühlungsvermögen von dir. Sie verlangt, in schwierigen Ärgersituationen differenzieren zu können. Drei Beispiele hierzu:
Drei Beispiele für das sichtbare, unerwünschte Verhalten und die darunter verborgene, positive Absicht
Deine Aufgabe besteht nicht darin, das beobachtete Verhalten zu tolerieren, zu akzeptieren oder sogar gutzuheißen. Deine Aufgabe besteht darin, dich nicht zu schnell zu vorschnellen Urteilen hinreißen zu lassen, und mit Blick auf die verborgene(n) positive(n) Absicht(en) eine verständnisvolle Haltung einzunehmen. Wie kann dir dieser schwierige Spagat gelingen? Ich habe drei Anregungen beziehungsweise Praxishilfen:
Anregung 1: Stell die Warum- beziehungsweise Wofür-Frage – erst leise, dann laut
Wenn es dir schwerfallen sollte, die positive Absicht hinter dem Verhalten des Gegenübers zu erkennen, halte inne und suche zunächst im Stillen nach der Antwort. Frage dich gewissenhaft, welches Motiv darunterliegen könnte. Wie du (mittlerweile) weißt, muss ein nachvollziehbares Motiv vorhanden sein.
Findest du keine Antwort, beziehe dein Gegenüber mit ein und frage es ganz offen, etwa so: »Worum ging es dir eigentlich, als du … (getan) hast?« Formuliere diese Frage einfühlsam und neugierig, nicht kritisch und vorwurfsvoll. Finde situationsgerechte Worte, die es deinem Gegenüber leicht machen, sich für dein Anliegen zu öffnen.
Anregung 2: Pack die Matroschka aus!
Wenn dir der Blick auf die positive Absicht schwerfällt, denke an eine Matroschka. Das unerwünschte Verhalten deines Gegenübers entspricht dabei der äußeren Schale der Figur. Entferne nun nach und nach sämtliche Schichten, bist du letztlich bei einem Bedürfnis angelangt bist, dass du nachvollziehen und begrüßen kannst. Es ist nur eine Frage von Zeit und Geduld, bis du zur positiven Absicht vordringst.
Das Bild der unschuldigen Matroschka kann dir helfen, in schwierigen Ärgersituationen deine anspruchsvolle Aufgabe nicht aus den Augen zu verlieren. Je fragwürdiger das beobachtete Verhalten, desto mehr Schichten gilt es abzulegen. Allein du entscheidest, bis zu welcher Schicht du vordringen möchtest. Gibst du zu früh auf, verharrst du im Ärger, bringst du die Arbeit zu Ende, befreist du dich von ihm.
Anregung 3: Batman
Gerechtigkeit, Rache und Mord sind drei paar Schuhe. Wenn du keine Lust auf Einfühlung hast, denke an Batman. Als Kind wurden seine Eltern ermordet. Als erwachsener Mann trifft er den Mörder und sinnt auf Rache: »Was du meinen Eltern angetan hast, das tue ich jetzt dir an.« Wir können sein Vorhaben auf zwei Weisen bewerten. Variante 1 mit Blickverengung auf seine Tat: Dein Verhalten ist böse und abzulehnen. Mehr gibt es nicht zu sagen. Variante 2 mit Blickerweiterung auf die positive Absicht: Dein Verhalten ist abzulehnen, doch ich erkenne, welches Bedürfnis du dir erfüllen willst. Dein Bedürfnis ist nicht Rache. Dein Bedürfnis ist Gerechtigkeit. Das kann ich verstehen. Ich verstehe dein Bedürfnis, doch ich lehne dein Verhalten ab. Verwechsle bitte Gerechtigkeit nicht mit Rache. Wenn du mordest, entsteht vielleicht der Eindruck von Gerechtigkeit im Sinne von Gleichheit. Doch du irrst. Was du schaffst ist neues Leid. Lass die Mordabsicht und erfülle dir dein Bedürfnis nach Gerechtigkeit auf einem anderen Wege.
Du nimmst mit ...
Mit der »Positiven Absicht« kannst du schwierige Situationen ganzheitlich betrachten. Hast du früher das beobachtete Verhalten vorschnell und einseitig bewertet oder verurteilt, kannst du jetzt innehalten und das verborgene Motiv als positive Absicht erkennen. Du lehnst das Verhalten zwar nach wie vor ab, doch du kannst nachvollziehen, warum dein Gegenüber so gehandelt hat, weil du seinen guten Grund sehen kannst. Diese Einsicht wird deine Bewertungen und oder Urteile aufheben und damit deinen Ärger minimieren.
Die Strategie »Positive Absicht« im Überblick
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