An einer Schule. Während der großen Pause klopft es an der Tür des Lehrerzimmers. Ohne auf ein »Herein« zu warten, reißt die Mutter einer Drittklässlerin die Tür auf und bäumt sich grußlos vor der Klassenlehrerin ihrer Tochter auf: »Warum haben Sie mir nicht mitgeteilt, dass meine Tochter in Mathematik nicht mehr auf einer guten 2 steht?« Ohne eine Reaktion abzuwarten oder die übrigen Lehrer zu beachten fährt die Mutter wild gestikulierend und in lautem Ton fort: »Wie kann das sein?«
Lehrerin Leni ist völlig perplex. Sie kennt die Mutter, und ahnte, dass sie ganz schön hart sein kann, doch dass sie derart loslegen würde, das war nicht abzusehen. Zudem kann sie den Vorwurf überhaupt nicht nachvollziehen. Die Tochter hat halt in der letzten Arbeit nur eine 2 – geschrieben. Nicht mehr und nicht weniger.
Wie würdest du dich mithilfe des Anti-Ärger-Modells in dieser Situation behaupten? Gehe wieder ganzheitlich entlang der fünf Phasen vor. Überlege zunächst selbstständig, wie du die fünf Phasen anwenden würdest und vergleiche dann deine Lösungsansätze mit meinen.
- Deeskalieren
- Analysieren
- Minimieren
- Konfrontieren
- Positionieren
Phase 1: Deeskalieren
Wie Mona und Karl beginnt auch Leni mit der Technik der Nicht-Verschlimmerung. Atmen und Klappe halten, mehr gibt es nicht zu tun. Und zwar so lange wie nötig und so kurz wie möglich. Denn wer zu lange schweigt, könnte ungewollt den Eindruck erwecken, er hätte nichts dagegen. Nach dem Motto: Schweigen ist Zustimmung. Leni schweigt also nur für einen kurzen Augenblick und atmet dabei unmerklich – idealerweise tief und langsam.
Phase 2: Analysieren
Während Leni also für einen klitzekleinen Moment inne hält, fragt sie sich nach der Konfliktursache. Was fehlt Leni (was die Mutter nicht tut) beziehungsweise was stört Leni (was die Mutter tut)? Ihr wird bewusst, dass es sich um einen Zielkonflikt in Verbindung mit einem Kommunikationskonflikt handelt. Die Mutter reißt nicht nur die Tür auf, sondern auch ihre Augen. Leni selbst würde vorher klopfen, auf ein »Herein« warten und dann um ein Gesprächsmöglichkeit bitten, statt vor allen loszulegen – ohne Rücksicht auf Verletzte. Die Mutter ist anders: Sie hat das Ziel einzutreten, ohne auf eine Erlaubnis zu warten und sie kommuniziert verbal, stimmlich und körpersprachlich aggressiver als es Leni tun würde.
Auch auf Haltungsebene vermutet Leni einen Konflikt. Die Mutter scheint zu glauben, sie habe das Recht, einfach loszuplappern und die Lehrerin habe zu dienen. Leni hingegen bevorzugt ein vorsichtiges Annähern und eine Begegnung auf Augenhöhe, bei der Positionen ausgetauscht und ein gemeinsames Verständnis angestrebt werden.
Phase 3: Minimieren
Wie kann Leni hinter ihrem vordergründigen Ärger über die Mutter den Ärger auf sich selbst erkennen? Sie probiert es mit Reframing. Leni erkennt, dass sie diesen Helikoptermüttern generell – leider – noch (!) nicht gewachsen ist. Gut, dass diese Mutter sie heute daran erinnert, dass es noch etwas zu tun gibt, damit Leni heute daran arbeiten kann, um morgen nicht mehr angreifbar zu sein. Mit anderen Worten: Heute eine Schlappe, dafür morgen die Freiheit, sich nicht mehr in die Knie zwingen zu lassen.
Auch das Situationsmodell hilft Leni, denn sie kann sich fragen, was der Mutter (heute Morgen oder vor langer Zeit) Unangenehmes widerfahren sein muss, dass sie jetzt so auftritt? Haben andere Lehrer sie links liegen gelassen und sie hat Angst vor Wiederholung? Oder musste sie als Schülerin mal sitzen bleiben, wurde deshalb gehänselt und hat Angst, dass ihrer Tochter gleiches widerfahren könnte? Was auch immer es ist, die aufgebrachte Mutter ist gerade nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte – um nicht zu sagen im Vollbesitz ihrer (gütigen) Liebe. Kommt in den besten Familien vor.
Phase 4: Konfrontieren
Falls Restärger verbleibt, setzt Leni gekonnt Grenzen. Zum Beispiel mithilfe des sachlichen Aufklärens: »Wir können uns gern über den Fall unterhalten, aber nicht in dieser Lautstärke. Danke für Ihr Verständnis.« Oder: »Lassen Sie uns an einen ruhigen Ort gehen, da stören wir niemanden.« Oder auch so: »Wenn Sie einfach so reinkommen und so laut mit mir vor allen sprechen, fühle ich mich überrumpelt. Bitte klopfen Sie beim nächsten Mal an.«
Sollte die Mutter für diese Rückmeldungen nicht empfänglich sein, erlaubt sich Leni das schlagfertige Kontern, indem sie etwa fragt: »Welchen guten Grund könnte es für die 2– geben?« (in Verbindung mit einem fragenden Blick), oder liebevoll-ironisch »Geht das bitte noch etwas lauter?« (mit einem souveränen Lächeln) oder auch »Ich habe Ihr Anklopfen gar nicht gehört!« (lächelnd). Verfehlt dies alles sein Ziel, erlaubt sich Leni abschließend das nonverbale Irritieren. Wie oben bereits angedeutet, kann sie einfrieren, kontrastieren, ignorieren oder auch isolieren.
Phase 5: Positionieren
Lässt sich die Mutter mit keiner Konfrontationsstrategie aufhalten, fragt sich Leni, ob sie ein solches Verhalten tatsächlich akzeptieren oder tolerieren kann. Die Mutter (aus dem Lehrerzimmer) zu exilieren wäre sinnvoll und machbar, auf der anderen Seite sicher nicht leicht, angesichts ihrer Aufgebrachtheit. Sich zu verdünnisieren wäre schließlich auch einen Versuch wert: Die Mutter einfach stehen lassen oder sie mit einer souveränen Handbewegung einladen, gemeinsam das Lehrerzimmer zu verlassen.